KI, Körper und Kunst in alten Mauern
Eine alte Seifenfabrik, 500 Jahre Geschichte, ein visionärer Sammler und Werke von Jeff Koons, Refik Anadol und Jordan Wolfson: AMA VENEZIA ist mehr als eine Ausstellung – es ist ein Manifest. Laurent Asscher bringt mit seiner neuen Stiftung eine eindrucksvolle Sammlung nach Venedig, die den Dialog zwischen Mensch, Maschine und Material radikal neu denkt.
Der erste Eindruck: Beton, Geschichte, Datenrauschen
Wer durch das schmale Tor an der Fondamenta de Ca’ Vendramin tritt, spürt sofort: Das hier ist kein typischer Ausstellungsraum. Keine goldenen Decken, keine Marmorböden, keine weiße Box. Stattdessen: raue Wände, industrielles Gebälk, Spuren von Arbeit. Das Gebäude der AMA Venezia ist ein Stück venezianischer Industriegeschichte. Die historische Anlage taucht bereits auf Jacopo de Barbaris Stadtplan von 1500 auf und diente über Jahrhunderte hinweg verschiedenen industriellen Zwecken – zuletzt als Seifenfabrik. Für die Transformation in einen zeitgemäßen Kunstraum wurde das venezianische Architekturbüro TA Torsello Architettura beauftragt. Mit großer Sensibilität entstand ein flexibler Ausstellungsort, der die Vergangenheit würdigt und der Gegenwart Raum gibt. So entstand ein Spannungsfeld aus Geschichte und Gegenwart – genau das, was auch die ausgestellte Kunst thematisiert.

AMA VENEZIA nutzt bewusst die Kraft des Orts: 500 Jahre Geschichte atmen durch jede Wand. Und diese Geschichte trifft jetzt auf Roboter, auf KI-Visualisierungen, auf Skulpturen, die gleichzeitig glänzen und verstören.
Laurent Asscher: Der stille Sammler tritt ins Licht
Hinter AMA VENEZIA steht Laurent Asscher, ein Mann, der bisher lieber hinter den Kulissen agierte. Aus einer belgischen Unternehmerfamilie stammend, machte er sich einen Namen im Private-Equity-Geschäft. Seine Leidenschaft galt jedoch stets der Kunst – vor allem jener, die sich nicht leicht verkaufen lässt. Seit 2012 hat Laurent Asscher eine beeindruckende Sammlung aufgebaut, die mit dem Erwerb von Jean-Michel Basquiats „Irony of Negro Policeman“ (1981) begann. Nun verwandelt er seine private Leidenschaft in eine öffentliche Plattform, die das kulturelle Gefüge Venedigs bereichern soll. Er sammelte früh Werke von KünstlerInnen, die sich mit Technologie, Körper und Gesellschaft auseinandersetzen. Als stiller Förderer war er in Sammlerkreisen bekannt – jetzt geht er einen Schritt weiter.
„Ich wollte einen Raum schaffen, in dem Kunst nicht einfach nur gezeigt, sondern geteilt wird“, sagt Asscher. Die Stiftung trägt die Initialen seiner drei Kinder: Andrea, Matteo, Alessandro – AMA. AMA ist aber auch ein Verb, das eine Geste, eine Vision kennzeichnet und bedeutet zugleich „lieben“ auf Italienisch. Und sie soll genau das sein: Eine liebevoll kuratierte, offen gedachte Einladung zur Auseinandersetzung.

Auftaktausstellung: “AMA Collection”
Die Eröffnungsausstellung, die vom 9. April bis 29. Juni 2025 läuft, gibt einen Einblick in Asschers vielfältige Sammlung. – kuratiert von Nancy Spector, der ehemaligen Chefkuratorin des Guggenheim Museums New York . Der Fokus liegt auf der Beziehung zwischen analoger Geste und digitaler Reproduktion. Ein besonderes Highlight ist Jordan Wolfsons „Female Figure“ (2014), eine animatronische Skulptur, die durch ihre interaktive und provokative Natur besticht. Die Ausstellung untersucht die Spannung zwischen Geste und Reproduktion, zwischen manueller Malerei und mechanischer Technik. Das Konzept: Kunst für ein post-digitales Zeitalter
AMA VENEZIA ist keine Ausstellung im klassischen Sinn, sondern eine räumlich gewordene Haltung. Hier geht es nicht um dekorative Kunst oder Marktwerte – sondern um Kunst, die sich einmischt. Die Themen der ersten Präsentation: künstliche Intelligenz, Körper, Kontrolle, Wahrnehmung, Identität.
Die gezeigten Werke stammen von einer Auswahl internationaler KünstlerInnen, die sich mit genau diesen Fragen beschäftigen. Die Zusammenstellung wirkt nicht willkürlich oder effekthascherisch, sondern präzise, rhythmisch und räumlich durchdacht.
Jeff Koons: Der King of Surface in neuem Licht

Wer Jeff Koons nur aus weißen Galerieräumen kennt, erlebt hier eine Überraschung. Seine monumentale Hulk Elvis Serie (Rock) – eine Mischung aus antiker Pose und amerikanischem Pop-Mythos – entfaltet in der Industriearchitektur eine neue Intensität. Der makellose Glanz des polierten Marmors wirkt hier fast aggressiv. Die ironische Distanz, die Koons sonst begleitet, weicht einem Gefühl von Fremdheit – genau richtig für diesen Kontext.
Refik Anadol: Wenn Maschinen träumen
Refik Anadol nutzt große Datenmengen – in diesem Fall meteorologische Informationen – und übersetzt sie mithilfe von neuronalen Netzwerken in bewegte Bilder. Seine Arbeit gleicht einem lebendigen Organismus: Farbflüsse gleiten über Wände, Formen entstehen, lösen sich auf, beginnen neu. In den nackten Wänden der Seifenfabrik wirkt das wie ein digitales Fresko, das sich nie wiederholt.
Seine Vision: Maschinen, die nicht nur rechnen, sondern imaginieren. Der Mensch bleibt Beobachter – oft fasziniert, manchmal überfordert. Anadol sagt: „Ich will Räume schaffen, in denen Daten eine emotionale Wirkung erzeugen.“ Im AMA VENEZIA gelingt ihm das eindrucksvoll.

Jordan Wolfson: Die unheimliche Figur
Wer sich der animatronischen Skulptur Female Figure von Jordan Wolfson nähert, bleibt unweigerlich stehen. Die Figur trägt ein laszives Kostüm, tanzt zu Popmusik, blickt den BetrachterIn direkt an. Sie spricht, sie spottet, sie flirtet. Und sie beunruhigt.
Wolfson spielt mit Voyeurismus, Macht, Gender – und lässt die BesucherInnen nicht unberührt. In einem Raum, in dem früher ArbeiterInnen ihre Hände in Lauge tauchten, steht nun eine Maschine, die Gefühle imitiert – und damit echte Reaktionen auslöst.

Weitere Positionen: Vom Körper zum Code
Die Ausstellung wird ergänzt durch Werke weiterer KünstlerInnen, darunter:
- Elizabeth Peyton, deren intime Porträts in der industriellen Umgebung fast wie private Tagebuchseiten wirken.
- Wade Guyton, großformatige Leinwände aus dem Tintenstrahldrucke, die Fehler und Materialität ins Zentrum stellen.
- Lauren Halsey, deren großformatige Reliefs zwischen Stadtarchiv und Science-Fiction oszillieren.
- Tschabalala Self, deren textile Arbeiten Körper neu zusammensetzen – grell, laut, unübersehbar.
- Avery Singer: digital konstruierte Gemälde mit 3D-Software
Weitere vertretene KünstlerInnen: David Hammons, Mohammed Sami, Florian Krewer, Jacqueline Humphries, Brice Marden.

Auf den Punkt gebracht: Ein Ort für alle
Der Eintritt ist frei. Keine Reservierung, kein VIP-Bereich, keine Paywall. Laurent Asscher sagt: „Ich wollte, dass jeder kommen kann – ob KunstkennerIn oder Tourist, SchülerIn oder Sammler.“ AMA VENEZIA versteht sich nicht als Event, sondern als öffentlicher Raum im besten Sinne.
Praktische Informationen
Ausstellungsort: Fondamenta de Ca‘ Vendramin 2395, Cannaregio, Venedig
Dauer der Ausstellung: 9. April – 29. Juni 2025, Mittwoch bis Sonntag, 11–18 Uhr (letzter Einlass 17:3o)
Website: www.ama.art